Gedanken zur Liebe #5 - Eltern, Kind & der Balkan
- Melani
- 5. Mai 2020
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 6. Mai 2020
Aus Liebe zu einer gesunden Eltern-Kind-Beziehung.
Ich erblicke das Licht der Welt und relativ schnell merke ich auch, dass sich meine Familie kulturell von anderen unterscheidet. Nicht zuletzt aufgrund der hohen Besucheranzahl und der vielen Feste nach meiner Geburt, den vielen zerrissenen Hemden meines Vaters (ein Brauch zur Geburt eines Kindes am Balkan) sowie der abrasierte Schnauzer (ein weiterer Brauch), nachdem klar wurde, dass ich doch ein Mädchen und kein Junge bin, wie von den Ärzten während der gesamten Schwangerschaft falsch prognostiziert. Nicht zuletzt auch der Cocktailmix aus unterschiedlichen Subkulturen eines serbischen Vaters und einer bosnisch-kroatischen Mutter, die sich in mir vereinende römisch-katholisch und serbisch-orthodoxen Religion sowie meiner kroatischen Muttersprache, die aufgrund der überwiegend in Serbien verbrachten Ferien und Wochenenden immer mehr in die serbische Aussprache übergeht. Ich sage euch, die Relativitätstheorie lässt sich leichter erklären als die Frage nach meinen Wurzeln. Aber hey, das Wort "Balkan" oder "Jugo" wirkt in diesem Fall lebensvereinfachend und lässt das alles gut zusammenfassen.
Im Folgenden möchte ich auf Konfliktpotenziale und Aspekte des Erwachsenwerdens in ähnlichen Jugo-Familienkonstellationen zu "sprechen" kommen. Die folgenden Ausführungen sind nicht ausschließlich aus meinem Leben, sondern ergeben sich auch aus Gesprächen mit gleichaltrigen Bekannten, Verwandten und Fremden, die sich mit sehr ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sehen.
Wenn man einen schulischen/beruflichen Weg einschlägt ...
Mit der Geburt wird einem Kind das Leben geschenkt. Betonung auf "geschenkt"! Manche beschenken und erwarten sich gleichzeitig eine Gegenleistung, mindestens genauso groß oder wichtig und beschenken sich somit im Endeffekt eigentlich das eigene Ego statt das Gegenüber. Andere wiederum, und darin sehe ich den wahren Kern des Schenkens, beschenken, um den anderen glücklich zu machen. Und das lässt sich genauso auch auf das Kinderkriegen oder die Erziehung übertragen. Meine Eltern waren immer darauf bedacht, mir eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Großen Dank dafür! Sie arbeiteten, was das Zeug hält, damit sie mir ein besseres bzw. leichteres Leben als das ihres ermöglichen konnten. Die Tatsache, dass sich die Eltern für eine bessere Zukunft aufopfern, löst in einem - zum Teil auch unbewusst - einen gewissen Druck aus. Man hat das Gefühl, seinen Eltern etwas zu schulden und performen zu müssen. Meine Eltern haben sich nie in meine Studiums-/Berufswünsche eingemischt, dennoch denke ich, dass ich oft unbewusst darauf schaute, bei welchem Studiengang oder in welchem Job das meiste Geld lag, anstatt mich selbst zu fragen, was mich wirklich glücklich macht. Bei anderen Familien sah es da oft schon ganz anders aus. In vielen Fällen sehen Eltern die Kinder nicht als eigenständige Erwachsene, sondern als Besitz bzw. Verlängerung ihrer selbst. Und wenn sie es nicht geschafft haben, ihre Träume zu erfüllen, dann wird es zur Aufgabe des Kindes in ihre meist "für die Geburt des Kindes aufgegebenen" Fußstapfen zu schlüpfen und diesen Weg ohne Widerrede zu gehen. Die eigenen Träume und Möglichkeiten werden dadurch im Keim erstickt. Aussagen wie "Ich meine es doch nur gut mit dir" oder "Ich weiß, was gut für dich ist" sind dabei ständige Wegbegleiter, die dazu dienen, einen wie Google-Maps auf dem "richtigen" Weg zu behalten und gegen jede Art von Rebellion entgegenzuwirken. Viel zu selten reflektiert oder hinterfragt man die Beweggründe für ein Studium oder einen bestimmten Job. Und viel zu oft lässt man sich von der Meinung der Eltern oder der mysteriösen "anderen", deren Meinung ja so wichtig ist, leiten. Als Elternteil ist es wichtig, seinem Kind den Raum und die Unterstützung zu bieten, die es für die Entfaltung seiner Selbst braucht. Erwartungen ermöglichen dies nicht. Vielmehr sollte man gespannt und neugierig sein, welchen Weg das Kind einschlägt und ihm so die Möglichkeit bieten, zu lernen, seinen eigenen Instinkten zu folgen und seine Persönlichkeit zu formen.
Wenn man das Elternhaus verlässt ...
Für viele Jugo-Eltern, vor allem für die süßen Mütter da draußen, werden Kinder zum absoluten Zentrum ihres Lebens. Sie geben sich für ihre Kinder komplett auf. Und wenn der Zeitpunkt des Ausziehens an der Tür klopft, bleibt danach nichts als Leere und aufgrund der Aufgabe oder mangelnden Entwicklung von anderweitigen Hobbys ein Überfluss an Zeit. Ich bemerke oft, dass nach dem Ausziehen aus dem sicheren Nest, die emotionale Abhängigkeit zwischen Eltern und erwachsenem Kind oft durch das Glasfasernetz oder die Telefonleitungen ersetzt wird. Ich zählte früher auch zu denjenigen, die sich täglich und ständig mit ihren Eltern hörten. Das ging so weit, dass der Kontakt eine Art Pflicht darstellte und die aufrichtige Sehnsucht, zum Hörer zu greifen oder einen Besuch abzustatten, irgendwann komplett ersetzte. In den meisten Fällen waren es unnötige Anrufe wie "Was machst du?", "Wo bist du?" und oft ist es eine Art von Kontrolle. Oder aber auch das aufgrund von Überbeschützen unterentwickelte Entscheidungsvermögen, so dass man immer das Bedürfnis hat, die Eltern in alltägliche Entscheidungen einbinden bzw. sich ihre Bestätigung holen zu müssen. Ich weiß, wie schwierig es ist, einen Anruf eines Balkan-Elternteils nicht anzunehmen, wenn man gerade nicht in der Stimmung ist zu reden oder es einfach nichts zu sagen gibt. Ich spreche nicht von Notfällen! Allerdings wird die Fähigkeit, Notfallanrufe von normalen zu unterscheiden irgendwann unmöglich, wenn die Zahl der Anrufe ins Unendliche reicht. So wie man es mit Freunden, Verwandten und Bekannten macht, ist es auch wichtig, im Verhältnis zu den Eltern Grenzen zu setzen und aufzuzeigen, um eine gesunde Beziehung aufbauen zu können. Genauso ist es mit Gesprächen. Viele Jugo-Eltern neigen dazu, ihre Kinder nicht als eigenständige Individuen zu sehen, wodurch Gespräche niemals auf Augenhöhe stattfinden können. Sehr oft, denken sie besser zu wissen, was man fühlt oder denkt. Und manchmal hat man sich über die Jahre hellseherische Fähigkeiten angeeignet und äußert nicht einmal das, was man denkt, weil man sich im Kopf bereits ausmalt, wie die Eltern reagieren werden. Wieso geben wir unseren Eltern nicht die Möglichkeit, uns vom Gegenteil zu überzeugen? Nicht nur einmal sondern immer wieder. Wichtig ist, für sich selbst einzustehen und das auszusprechen, was man fühlt und denkt ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Erst wenn sich Eltern und ihre erwachsenen Kinder auf Augenhöhe begegnen, wird der Boden geebnet sein, um dann einen Raum für die freie Äußerung seiner Emotionen und Gedanken zu schaffen.
Wenn man einen Partner findet ...
Ich weiß zwar nicht, was Eltern bei der Partnerwahl eines Menschen zu suchen haben, aber im Falle der Balkanfamilien haben diese einen starken Einfluss zum Teil auch ohne, dass man dies möchte oder sogar bemerkt. Ich habe mich schon oft gefragt, wieso der eigene Partner den Erwartungen der Eltern entsprechen muss? Es sind nicht sie, die in einer Beziehung mit dieser Person sind. Das Einzige, das in Bezug auf die Eltern wichtig ist, ist wie der (potenzielle) Partner mit ihnen umgeht - mehr nicht! Wie auch immer. Wenn man nun bewusst zulässt, dass die Eltern mitmischen können, dann sage ich euch: es ist echt nicht leicht, teilweise auch unmöglich, einen Partner zu finden, der all den Erwartungen der Jugo-Eltern entspricht. Denn keiner ist perfekt genug für das eigene Kind. Und da beginnt es oft schon bei der Herkunft, Religion, Ausbildung oder dem Job, was rein gar nichts mit dem Charakter der Person, die einen auf Wolke 7 katapultiert, zu tun hat. Und das macht das ganze ja auch ziemlich traurig. Ein ganz schlimmer Fall ist, wenn man sich nun für einen Partner entscheidet, beide Seiten wenig von der jeweils anderen halten und man als gutmütiger, es allen recht machender Mensch zwischen diesen beiden Feuern steht. Da ist die Selbstaufgabe vorprogrammiert. Es sollte doch jedem selbst überlassen sein, zu entscheiden, ob man nun ohne oder mit und mit welchem Partner man seinen Lebensweg bestreiten möchte. Und auch, wenn alles darauf hindeutet, dass die auserwählte Person nicht die richtige ist, dann muss man das selbst einsehen. Denn wenn die Eltern mitmischen wollen und ständig die negativen Seiten des Partners - sei es nun direkt oder indirekt - ansprechen, kann es zu fatalen Folgen kommen. Zum Beispiel möchte man den Eltern trotz Einsicht das Gegenteil beweisen. Manchmal aus Trotz à la "Jetzt erst recht!" und manchmal wiederum, um den Nachweis zu erbringen, dass man in der Tat erwachsen genug ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Denn Fehler werden bei Balkanfamilien als etwas sehr Negatives gesehen, meist weil der Gedanke "Was werden denn die anderen sagen?" dahinter versteckt liegt. Und viel zu schnell kommt dann der typische Satz eines Elternteils "Ich hab's doch gewusst! Ich hab's dir doch gesagt!". Ich weiß, es muss hart sein, sein eigenes Kind leiden zu sehen. Aber Leiden gehört zum Leben dazu. Mit der überbeschützenden Strategie, sein Kind vor allem Übel fernhalten zu wollen, schränkt man dessen Persönlichkeitsentwicklung maßgeblich ein. Irgendwann so schlimm, dass man sich nicht zutraut, selbst Entscheidungen zu treffen, oder um jeden Preis versucht, sich nicht zu öffnen, um ja nicht verletzt zu werden. Ich denke, dass es zu einer gesunden Entwicklung dazugehört, sich mit Schmerz auseinandersetzen zu können, um in weiterer Folge ein gewisses Potenzial daraus schöpfen zu können und nicht jedes Mal völlig daran zu zerbrechen.
Leider bleibt es in vielen Fällen die Aufgabe des Sohnes/der Tochter diese Beziehung in gesunder Balance zu halten und permanent für sich selbst einzustehen oder wenn es in ein zerstörerisches, energieraubendes Ausmaß übergeht, den Weg der Distanz zu wählen. Die Verbindung zwischen Eltern und Kindern vom Balkan ist eine einzigartige und sehr intensive. Es fehlt nicht viel, dass diese Liebe ins andere Extrem übergeht und eine Kraft auslöst, die einen förmlich erwürgt, destruktiv beeinflusst oder zurückhält. Wir sollten nie aufhören, nach einer aufrichtigen, bedingungslosen Liebe zwischen Eltern und Kindern zu streben, die frei- und loslässt.
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